Sie saß allein im Café über ihren Unterlagen. Mann, das war echt schwierig. Sie hätte sich den Text vielleicht doch schon früher durchlesen sollen und nicht eine Stunde vor Seminarbeginn. Na ja, jetzt war es eh zu spät. Sie würde sich halt pflichtbewusst noch durch den Rest des Textes quälen. Wenn dieses Seminar nur schon um wäre, sie würde ja schließlich auch noch eine Arbeit zurückkriegen und die wollte sie eigentlich nicht. Sie schaute hoch und zur Tür. Vielleicht kam da ja jemand, der sie von diesem Mist hier ablenken konnte. Nein, keiner da. Kein Wunder, war ja auch noch viel zu früh. Da war ja noch kein Mensch an der Uni. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte auf das dicht bedruckte Blatt vor ihr, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Sie musste einige Minuten so da gesessen haben, aber als sie wieder den Kopf hob und zur Tür sah, musste sie lächeln, denn da stand er und lächelte sie an, als hätte er genau gewusst, dass er sie hier finden würde. Sie winkte ihm zu, war sich aber sicher, dass er sich, wie immer, mit seiner Arbeit irgendwo in eine stille Ecke verziehen würde und sie nicht weiter beachten würde. Sie widmete sich widerwillig wieder ihrem Text. „Na, du bist aber auch früh hier…“, sagte eine Männerstimme über ihr. Sie schaute hoch und sah direkt in sein fröhliches Gesicht mit den ganz besonderen blauen Augen. „Ja, ich bin jeden Morgen so früh hier. Hier ist einer der wenigen Orte, an denen ich arbeiten kann; ich hasse es, in der Bibliothek über den Büchern zu brüten. Aber warum bist du denn so früh hier?“ Sie startete den Gegenangriff. Er stellte seine Tasse ab, direkt ihr gegenüber. Wow, dachte sie bei sich, das ist außergewöhnlich, dass er sich einfach so dazusetzt. Damit hätte ich nicht gerechnet. „Ich hab um zehn ein Referat und bin so aufgeregt, dass ich nicht in meine erste Veranstaltung gehen konnte.“ Er lächelte. „Stör ich? Du sahst so konzentriert aus.“ Sie blickte auf und schüttelte den Kopf. „Nö, das hier ist eh alles für die Katz! Setz dich ruhig!“ Sie lächelte und räumte ihre Tasse ein Stück zur Seite, um ihm Platz für seinen Laptop zu machen, den er normalerweise sofort auspackte, wenn er irgendwo Zeit und Muße hatte. Doch entgegen ihrer Erwartungen setzte er sich nur ihr gegenüber, lächelte sie an und trank seinen Kaffee. „Die Farbkombination gefällt mir!“, sagte er. Sie runzelte die Stirn und sah ihn an. Wovon sprach der gute Mann denn da? Sie hatte eines der ältesten Shirts an, die sie im Schrank gefunden hatte. Gut, es war gelb, aber das konnte er dann ja nicht gemeint haben, die Farbe trug sie ja eh öfter. Sie schaute ihn fragend an, aber er lächelte nur, bis es ihr dämmerte. „Ach, du meinst DAS hier!“, lachte sie und klimperte mit den Wimpern. Sie hatte heute Morgen eine Lidschattenkombination zwischen gelb und rot gewählt und die Wimpern ausgiebig getuscht. Das war noch nie irgendjemandem aufgefallen. „Auf was du nicht alles achtest…“ Es verwirrte sie und sie musste in der gleichen Sekunde an den Tag denken, an dem er an ihr vorbeigegangen war und ihr im Vorbeigehen zur Begrüßung übers Haar gestrichen hatte. „Tja, klar! Gefällt mir wirklich!“ „Danke!“ Sie freute sich wirklich. Das hatte noch nie ein Mann fertig gebracht, ihr darüber ein Kompliment zu machen. Sie war etwas verwirrt, versuchte aber sich zu konzentrieren und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Aber es war ihr unmöglich, seine Nähe zu ignorieren. Schließlich waren die Tische nicht wirklich riesig und er saß ihr daher sehr nahe gegenüber. Sie schaute deshalb bald wieder hoch, direkt in seine stahlblauen Augen und fing an, über das Seminar zu maulen, das auf sie wartete. Sie redete sich in Rage, über das Thema, die Dozentin und alles was damit zu tun hatte. Es amüsierte ihn sichtlich. „So hab ich dich ja noch nie gesehen!“, meinte er verblüfft mit einem verschmitzen Lächeln in den Augen. „Tja, du kennst mich halt nicht in- und auswendig!“, schmunzelte sie und fragte sich gleichzeitig: Will der mit mir flirten? Nein, das kann nicht sein. Jeder, aber nicht er. Er, der praktisch an jeder Hand eine andere hatte, weil er so ein Frauentyp war. Warum auch immer, dachte sie. Sie musste unbedingt herausfinden, weshalb er sich so seltsam benahm und ob er weiter so tun würde, als würde er sich für sie interessieren. „Ich will nicht in mein nächstes Seminar!“, schmollte sie deshalb und schob die Unterlippe vor. Ohne Vorwarnung streckte er seine Hand aus, nahm ihre und streichelte sie, während er sie lange ansah. „Och, du Arme, nicht weinen.“ Sein Lächeln macht ihn wirklich zu was ganz Besonderem, dachte sie sich wieder. Seine Hand, die ihre immer noch festhielt, wurde ihr immer bewusster. Sie versuchte sie zu vergessen, aber es fühlte sich so gut an, mal wieder beachtet zu werden und nicht immer für durchsichtig erklärt zu werden. Es war so schön, dass sie sich für einen Moment wünschte, er würde sie nie loslassen. Er suchte nach ihrem Blick und fand ihn auch, als er ihre Hand los ließ. Sie lächelte und versuchte, nichts in sein Verhalten hineinzuinterpretieren. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Uni und was ihnen daran alles auf den Keks ging. Immer wieder trafen sich ihre Blicke und dabei durchzuckte es sie jedes Mal wie ein Blitz. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Gerade jetzt, wo sie wusste, dass eine Freundin genau diesen Mann so genial fand. Sie versuchte sich selbst zu beruhigen. So ein Quatsch, du bildest dir da was ein! Mitten in ihrem Gespräch traf ein Kumpel von ihm ein. Leider, dachte sie, ließ sich aber nichts anmerken, sondern fiel in ihre normale Arbeitshaltung und versuchte sich einigermaßen zu konzentrieren, was ihr auch überraschend gut gelang. Die Jungs unterhielten sich über dies und das und während sein Freund sie im Wesentlichen geflissentlich ignorierte, sah er sie immer wieder lächelnd an und versuchte sie in das Gespräch einzubinden. Und als sein Kumpel nach den Zigaretten griff, sagte er bestimmt: „Was meinst du, warum sie gerade hier sitzt?! Also nimm einfach mal Rücksicht!“ Wie ritterlich er manchmal sein kann, dachte sie, als sie später drüber nachdachte. Nachdem noch mehr seiner Kumpels eingetroffen waren und seine Nervosität wegen des Vortrags ins Unermessliche gestiegen war, machte sie sich auf in ihr Seminar, wo sie durch viel Arbeit von ihren Gedanken abgelenkt wurde. Nach dem Kurs hatte sie sich mit einer Freundin in dem Café verabredet, in dem sie ihn morgens getroffen hatte. Ein Freund begleitete sie noch mit runter und wer bog um die Ecke, als sie gerade am Ende der Treppe ankam. ER! Sie lächelte ihn strahlend an und fragte mit einem zarten Klopfen auf die Schulter, wie es beim Referat gelaufen sein. „Ganz gut!“ lautete die lapidare Antwort, die aber schleunigst durch ein „Sag mal, bist du nachher noch da? Ich geh mir nur schnell was zu essen kaufen!“ ergänzt wurde. „Ja klar, bis gleich!“, brachte sie noch heraus, aber da war er schon verschwunden. Als ihre Freundin eintraf, suchten sie sich einen Tisch und gingen sich noch Getränke besorgen. Es dauerte aber danach noch keine halbe Minute, da stand er schon wieder neben ihrem Stuhl und setzte sich neben sie. „Darf ich?“, fragte er, ganz Kavalier der alten Schule. „Klar!“ Und dann ging es wieder los. Sie vertrugen sich so gut und er war ihr so nah, dass sie es nicht fassen konnte. Sein Gesicht war ihr manchmal so nah, dass sich fragte, was er damit bezwecken wollte. Sie lachten im selben Augenblick und ihr fielen seine Augen erneut auf. Sie waren so klar. Ihr kam der Gedanke, dass sie ihn tatsächlich zum ersten Mal als Mann und nicht nur als netten Kerl sah. Und sie schrak davor zurück. Denn wenn sie wirklich im Begriff war, mehr für diesen Menschen zu empfinden, konnte das ihrer Freundschaft schaden und das wollte sie nicht. Auf keinen Fall. Sie geriet ins Grübeln, von dem sie aber immer wieder seine fröhliche Art und seine körperliche Nähe abhielten. Ihre Freundin saß ihr gegenüber und schien von all dem nichts mitzukriegen. Hoffentlich, dachte sie, denn wenn sie das erfährt, ist auch diese Freundschaft beim Teufel. Mitten im Gespräch passierte es dann. Die Gewohnheit siegte und er packte seinen Computer aus. Sie schmunzelte in sich hinein. Hatte sie es doch gewusst, dass er ohne nicht leben konnte. Sie spielte ihm das hilflose Mädchen vor, machte einen Schmollmund und fragte weinerlich: „Du willst mich doch hier wohl nicht sitzen lassen?“ Da strich er ihr in einer durchaus beabsichtigten Geste über das Bein und meinte mit einem langen Blick in ihre Augen: „Komm doch einfach mit!“ Aber dem war ihre Freundschaft zu ihrer Freundin vor. Sie schüttelte den Kopf und lehnte ab. Noch während er sich umsetzte, verschwand ihre Freundin urplötzlich und sie begann sich Sorgen zu machen. Hatte sie etwa etwas bemerkt? Hatten sie wirklich so deutlich miteinander geflirtet? Sie machte sich Vorwürfe, sie würde gleich gehen. Er sah sie vom andern Ende der Tischreihe an, klopfte auf den Sitz neben sich und meinte: „Du sitzt da vorne so allein, setz dich doch zu mir.“ Aber sie konnte es nicht riskieren, wegen einer solchen Lappalie ihre Freundin zu verlieren. Sie packte ihre Tasche und als ihre Freundin wieder da war, verabschiedete sie sich mit einem fröhlichen „Ciao“ aus der Runde. Am selben Abend sah sie ihn ein letztes Mal wieder und wünschte ihm ein schönes Wochenende. Er erwiderte ihren Gruß. Er stand ganz allein in einiger Entfernung an der Bushaltestelle, was sie nicht verstehen konnte, weil er normalerweise immer von Freunden, und vor allem von Freundinnen, umzingelt war. Sie dachte noch Stunden später darüber nach. Vor allem am nächsten Tag ging er ihr nicht aus dem Kopf. Sie versuchte sich klarzumachen, dass da nichts sei, aber sie zweifelte an ihren eigenen Gedanken. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was noch passieren würde. Aber diesmal würde sie die Angst überwinden. Sie würde sich nicht noch einmal eine Chance entgehen lassen. In einem Anflug geistiger Umnachtung schrieb sie ihm eine Nachricht. Sie konnte diese Gefühle, die er wachgerufen hatte, nicht ignorieren. Diesmal würde sie der Sache auf den Grund fühlen. Vielleicht würde es diesmal ja funktionieren. Sie konnte die Hoffnung nicht unterdrücken.