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Dieses Thema hat 72 Antworten
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Mone Offline



Beiträge: 239

07.12.2006 11:16
Mal was längeres von mir... Antworten

Ich hatte den Einfall, bzw. das Bedürfnis, mal was Größeres zu verfassen und dachte mir, ich poste das einfach nach und nach mal hier. Also: Viel Spaß (oder so) beim Lesen!

Musik ohne Ton (nur ein Arbeitstitel )

1 Neuanfang

Da war es wieder. Dieses Vibrieren. Der ganze Raum schien zu wackeln. Patrick bekam es mit der Angst zu tun. Er war zum ersten Mal ganz allein in seiner neuen gemütlichen Dreizimmerwohnung mit Blick auf die Altstadt von Heidelberg, nachdem er vor zehn Minuten wild gestikulierend seine Mutter vor die Tür gesetzt hatte. Manchmal war er froh, dass er sie nicht hören konnte. Schon ihren Gesten war zu entnehmen, wenn sie wütend war. Wie musste dann erst ihre Stimme klingen.
Patrick war taubstumm geboren worden. Ihm machte es mittlerweile fast nichts mehr aus. Wenn man von den Blicken absah, die ihm manche Leute immer noch zuwarfen, wenn er versuchte, die Laute nachzuahmen, die man ihm beizubringen versuchte. Aber er wollte es gar nicht lernen. Seine Welt war in Ordnung, und zwar genauso wie sie war.
Patrick ging von einem Zimmer zum nächsten, um zu sehen, woher das Vibrieren kommen könnte. Er starrte aus dem Fenster, raus in den Sonnenuntergang an diesem fast zu milden Novembertag und auf die Straße. Nein, ein LKW konnte es auch nicht gewesen sein. Die kamen nicht in die Altstadt mit ihren kleinen, engen, verwinkelten Gassen. Vorsichtig tappte er ins Wohnzimmer, wo sich alle unausgeräumten Umzugskartons stapelten. Hier war dieses Vibrieren am stärksten. Patrick ging zur Wand. Das Vibrieren wurde deutlicher.

In der Wohnung nebenan saß Saskia schon seit Stunden vor ihrer Stereoanlage. Sie hatte die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht. Erstens musste sie es ausnutzen, dass in der Wohnung neben und in denen über ihr noch niemand eingezogen war und zweitens schaffte sie es einfach nicht, diese eine Passage, von der ihr Dozent gesprochen hatte, aus Griegs „Morgendämmerung“ herauszuhören.
„Es ist doch zum Verrücktwerden!“, fluchte sie leise vor sich hin. Schließlich hatte sie morgen eine wichtige Prüfung und ihr Dozent hatte ihr den Tipp gegeben, sich genau dieses Stück noch einmal deutlich anzuhören, es durchzugehen und vielleicht noch einmal zu spielen.
Saskia war Musikstudentin im zweiten Semester an der Musikhochschule. Hauptfächer Querflöte und Gesang. Das war eine Heidenarbeit. Aber sie liebte die Musik über alles. Ein Tag ohne Musik war für Saskia einfach nur Zeitverschwendung. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ihr ihre Mutter nicht mit fünf ihre erste Flöte geschenkt hätte. Wäre sie dann auch so vernarrt in jegliche Form von Musik? Saskia stellte sich diese Frage öfter.
Im Moment aber ging ihr alles auf die Nerven. Sie hatte sich wochenlang auf diese Prüfung vorbereitet. Und dann kam dieser Dozent heute einfach so auf sie zu und meinte: „Tja, Frau Kandinski, wie weit sind sie denn mit ihren Prüfungsvorbereitungen? Ich hoffe, sie vergessen mir die Götterdämmerung nicht, von der ich in der Vorlesung im letzten Semester gesprochen habe?“ Saskia wusste nicht so recht, ob es sie freuen sollte, dass er ihr den Tipp gegeben hatte oder ob sie sich lieber darüber ärgern sollte, weil er ihren Stresspegel noch mal hatte ansteigen lassen.
„Da, endlich!“ Saskia drückte auf die Pause-Taste. Gott sei Dank, sie hatte die Stelle gefunden. Jetzt konnte sie ihre Querflöte holen und die Passage noch einmal spielen. „Puh, da hab ich ja noch mal Glück gehabt!“

Patrick stutzte. Das Vibrieren hatte plötzlich vollkommen abrupt aufgehört. Seltsam. Er starrte die Wand an und dachte nach. War das nicht die Wand, die an die Nachbarwohnung grenzte? Gute Frage. Patrick zuckte mit den Schultern. Er ging zurück zu seinen gut sortierten Umzugskisten, die seine Mutter noch für ihn gepackt und beschriftet hatte. Es war seine erste eigene Wohnung. Er hatte darauf bestanden, mit 23 endlich von zu Hause auszuziehen und in seine Wahlheimat Heidelberg zu ziehen. Davon hatte er schon als kleiner Junge geträumt. Und jetzt war es endlich, nach einer Menge Überzeugungsarbeit bei seiner Mutter, soweit. Er war da. In Heidelberg. Zum ersten Mal vollkommen auf sich gestellt.
Seine Mutter hatte verzweifelt versucht, ihm klarzumachen, dass es auch schief gehen könnte. Schließlich musste er zunächst einmal die Ausstattung der Wohnung ändern. Die Klingel musste geändert werden. Er musste sich einen neuen Wecker besorgen, weil der andere beim Umzug kaputt gegangen war. Ein anderes Telefon musste her. Aber Patrick machte sich keinerlei Sorgen um all das. Er war einfach nur glücklich, sein eigener Chef zu sein.
Er hatte einen Karton ausgepackt, was so aussah, dass er den Inhalt des Kartons jetzt großflächig im Raum verteilt hatte, als das Vibrieren wieder einsetzte. Merkwürdig, dachte er. Ob das wirklich aus der Nachbarwohnung kommt? Der Vermieter hatte bei der Schlüsselübergabe nichts davon verlauten lassen, welche Wohnungen schon bezogen waren und welche nicht. Nach der Sanierung des Hauses waren schließlich alle Wohnungen neu vermietet worden.
Patrick setzte sich auf den Boden und stützte den Kopf in die Hand. Was wäre, wenn er einfach mal klingeln würde? Das Vibrieren war irgendwie interessant. Es war nicht ständig gleichmäßig. Nein, es variierte auch noch. Das musste er einfach herausfinden. Kurz entschlossen stand er auf und ging zur Haustür, vor der er abrupt halt machte. Was würde es ihm bringen, wenn er klingeln würde und ihm jemand aufmachen würde? Er konnte sich ja nicht mitteilen. Meine Güte, wo war nur sein Block hin verschwunden, den er immer mit sich rumschleppte, in weiser Voraussicht. Er suchte fieberhaft in allen Taschen und rannte von einem Zimmer zum nächsten. Fast panisch schon erreichte er die Küche, wo der Block seelenruhig auf dem Tisch lag. In sauberster Handschrift hatte seine Mutter darauf geschrieben:
„Mein lieber Junge! Tja, jetzt bist du ausgezogen und ich muss dich hier lassen. Ich fahre um 15 Uhr 34 ab Gleis 3 mit der Bahn. Nur, dass du es weißt. Falls du doch wieder mit nach Frankfurt willst… Aber ich merke schon, dass du den Willen hast, hier zu bleiben. So gehe ich dann halt allein zurück. Ich möchte, dass du weißt, wie lieb ich dich habe und dass du immer ein Zuhause hast, in das zu zurückkehren kannst. Deine Mutter“
Unglaublich. Seine Mutter hatte doch tatsächlich bis zur letzten Sekunde gehofft, dass er sich anders entscheiden, den Schwanz einziehen und nach Hause gehen würde. Patrick schüttelte den Kopf, schnappte sich seinen Block, von dem er im Gehen noch den Brief seiner Mutter abriss und auf die Ablage legte, öffnete die Haustür und ging zur Nachbarwohnung.
Auch hier im Treppenhaus merkte er dieses Vibrieren deutlich. Er holte tief Luft und klingelte. Keine Antwort. Er wartete. Sollte er sich so getäuscht haben und da wohnte wirklich niemand? Er klingelte erneut. Er war sich fast sicher, dass da jemand wohnte. Auch nach zehn Minuten stand er noch unverrichteter Dinge im Flur. Langsam kam er sich blöd vor. Aber dieses Vibrieren interessierte ihn und es kam nun einmal direkt aus dieser Wohnung.
Er drehte auf dem Absatz um, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter, am Hausmeisterraum und den Kellerräumen vorbei, Richtung Haustür. Er schaute auf die Klingeln und da stand es: S. Kandinski. Hörte sich fremdländisch an. Aber wenigstens hatte er jetzt einen Beweis, dass er noch nicht ganz irre war, sondern dass da wirklich jemand wohnte.
Langsamer als vorher ging Patrick die Treppe wieder hoch. Ob er noch einmal klingeln sollte? Er beschloss, noch einen letzten Versuch zu wagen. Als er in der Etage ankam, stellte er fest, dass das Vibrieren wieder aufgehört hatte. Komisch. Er zuckte die Achseln und klingelte gleich mehrmals.

„Mann, Mann, Mann, ist ja gut, ich komm ja schon, nur keine Hektik, ja?!“ schimpfte Saskia vor sich hin, als es praktisch Sturm klingelte. „Hab ich mich doch nicht getäuscht, scheint vorhin schon geklingelt zu haben. Denen war bestimmt die Musik zu laut. Mist!“ Sie öffnete die Tür.
Vor ihr stand ein junger Mann, nicht viel älter als sie selbst, dunkelhaarig, braun gebrannt, mit intelligenten dunkelblauen Augen, der freundlich lächelte.
„Ja, bitte? Falls du, äh, Sie gekommen sind, um sich wegen der Musik zu beschweren, ich drehe sie jetzt leiser, ganz bestimmt, tut mir furchtbar Leid, aber wissen Sie, ich bin im Prüfungsstress und da…“ Wie immer, wenn sie nervös, oder aufgewühlt war, redete sie ziemlich schnell. Ihr Vater hatte immer gesagt: „Ohne Punkt und Komma!“

Patrick war beeindruckt. Vor ihm stand eine ganz niedliche junge Frau. In seinem Alter. Und sie redete wie ein Wasserfall. Normalerweise war er fähig, von den Lippen zu lesen. Aber erstens war das bei dem Tempo, das die Frau an den Tag legte, unmöglich, und zweitens guckte er sich erst einmal das ganze Persönchen mit den langen dunklen Haaren und den schwärzesten Augen, die er jemals gesehen hatte, in aller Ruhe an.

„Kannst du mir mal sagen, warum du nicht antwortest, aber so glotzt?!“ fauchte Saskia. Der Kerl war ihr irgendwie unheimlich. Der stand immer noch grinsend vor ihr, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Halt, nein, jetzt kam Leben in ihn und er machte eine beschwichtigende Geste.
„Was willst du denn von mir? Wenn die Musik dich stört, dann piep halt ’nen Ton!“ Saskia war stinksauer. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Jetzt griff er auch noch hinter sich in seine Gesäßtasche. Was sollte das denn? Sie wollte gerade die Tür schließen, als er ihr einen Block unter die Nase hielt, auf dem in schier unleserlicher Schrift stand:
„Hi! Ich wohne nebenan. Hab ein seltsames Vibrieren gemerkt und mich gefragt, ob das aus deiner Wohnung kommt. Deshalb hab ich übrigens geklingelt! Heiße Patrick Jakobson!“
„Und warum zum Teufel redest du nicht mit mir?“, schnaubte Saskia.
Wieder Gekritzel.
„Bin taubstumm.“
Scheiße, so was kann aber auch nur mir passieren, dachte Saskia und lächelte verlegen. Mal wieder mit zwei Füßen ins Fettnäpfchen. Nein, diesmal sogar per Kopfsprung.
„Ähm, sorry. War nicht so gemeint. Was hast du vorhin bemerkt?“
Patrick hielt ihr den Block noch einmal hin, um sie sein Gekritzel von vorhin noch einmal lesen zu lassen.
„Hmm. Vibrieren. Ja, das kann schon sein. Ich hatte meine Stereoanlage voll aufgedreht, weil ich mich auf eine Musikprüfung vorbereite.“
Wieder eine beschwichtigende Geste, diesmal gefolgt von Gekritzel.
„Du redest zu schnell, so schnell kann ich nicht Lippenlesen.“
„Oh, Entschuldigung. Geht - Es - So - Besser?“ Saskia betonte jedes einzelne Wort übertrieben deutlich. Patrick lächelte und nickte. Er griff zum Stift und schrieb.
„Du musst es aber nicht übertreiben. Bin taub, nicht doof.“
Saskia grinste, gegen ihren Willen, als sie sah, dass auch Patrick lächelte. Sie trat einen Schritt zur Seite und fragte: „Willst du vielleicht einen Moment reinkommen? Im Flur redet es sich so schlecht.“ Patrick nickte und trat ein.
Die Wohnung war schön. Patrick schaute sich ausgiebig um. Sie war genauso aufgebaut wie seine eigene. Aber viel freundlicher. Mit mehr Farben und Dekoration und einfach mehr Mädchen als in seiner Junggesellenbude. Er nickte anerkennend. Saskia sah es, lächelte und sagte: „Danke!“
Während sich Patrick in aller Ruhe in ihrer Wohnung umsah, musterte ihn Saskia verstohlen. Er war ihr noch nie begegnet. Vielleicht war er ja neu in der Stadt. Das musste sie gleich herausfinden. Sie rannte im Halbkreis um ihn herum, um ihm ins Gesicht sehen zu können und fragte: „Bist du neu in Heidelberg?“ Patrick nickte. Aber er schrieb nicht auf, woher er kam. Er wollte nicht über sich reden. Er zog es vor, herauszufinden, was dieses Vibrieren verursacht hatte. Aus diesem Grund marschierte er einfach an Saskia vorbei, direkt ins Wohnzimmer.
Saskia schaute ihm leicht verblüfft nach. Der benahm sich doch tatsächlich so, als wäre er hier zu Hause. Angesichts einer solchen Dreistigkeit konnte sie einfach nur den Kopf schütteln.
Als Patrick ins Wohnzimmer kam, fiel sein Blick gleich auf die Stereoanlage. Klar, sie hatte Musik laut aufgedreht. Da musste er das Vibrieren ja einfach fühlen! Und direkt neben der Stereoanlage lag eine Querflöte. Er warf Saskia einen Blick zu, der gleichermaßen fragend und bewundernd war. Saskia nickte: „Ja, ich spiele selbst. Ich studiere Musik hier in Heidelberg.“ Gleichzeitig dachte sie daran, wie merkwürdig es doch war, dass man sich nur mit Gesten und Blicken unterhalten konnte. Sie schüttelte den Kopf.
Patrick hatte diese Geste bemerkt, zog eine Augenbraue hoch und kramte seinen Block wieder vor. „Warum schüttelst du den Kopf?“ „Nur so.“ Saskia wollte nicht unbedingt zugeben, dass es ihr schon etwas seltsam zu Mute war, so ganz allein, mit einem fremden Mann, der noch dazu taubstumm war, in ihrer Wohnung zu stehen. Patrick schrieb: „Hast du vorhin Musik gehört oder Flöte gespielt?!“ „Ja, wieso?!“ Saskia wunderte sich. Woher wusste er das? Sie schaute zum Fenster, aber die Vorhänge waren zugezogen. Man hatte sie also nicht sehen können, von der Straße aus. „Woher weißt du das?“ Diesmal schrieb Patrick nicht, sondern zeigte auf den ersten Satz, den er geschrieben hatte. „Ach so, ja, das Vibrieren, das kam wahrscheinlich von der Anlage. Entschuldige, wenn ich dich bei etwas Wichtigem gestört habe.“ Wieder nur eine beschwichtigende Geste von Patrick als Antwort. Sie seufzte. Es war schon irgendwie schwierig mit einem Taubstummen „ins Gespräch“ zu kommen.
Eine peinliche Stille entstand. Eine Stille, die fast greifbar wurde. Saskia räusperte sich laut, um sie zu unterbrechen, aber Patrick hatte ihre CD-Sammlung entdeckt und war beschäftig. Er drehte ihr den Rücken zu und konnte deshalb den verzweifelten Gesichtsausdruck in ihrem Gesicht nicht sehen. Saskia seufzte erneut.
Patrick war verunsichert. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Bis jetzt hatten sich seine Kontakte zum anderen Geschlecht immer auf taubstumme Mädels bezogen. Und nun hatte er hier ein umwerfendes Exemplar vor Augen und konnte sich nicht so brillant ausdrücken, wie er das bei Gott gerne wollte. Auch er konnte die Stille, die zwischen ihnen entstanden war, wahrnehmen, ohne sie zu hören. Er seufzte, was Saskia stutzen ließ. Ging es ihm etwa ähnlich wie ihr? Merkte er diese unangenehme Stille auch? Warum ging er dann nicht einfach?
Patrick hatte sich umgedreht, lächelte Saskia kurz an und fing an auf seinen Block zu schreiben. „Ich gehe jetzt wohl besser. Ich hab noch einige Umzugskartons auszupacken. Und du siehst auch aus, als hättest du noch einiges zu tun. Tut mir Leid, wenn ich gestört habe.“ Er hielt im Schreiben inne und schaute kurz hoch. Saskia hatte ihn die ganze Zeit dabei beobachtet. Sie hatte noch niemanden gesehen, der beim Schreiben so konzentriert wirkte. Er schein beim Kritzeln seine Umgebung völlig auszuschalten. Zudem sah er dabei aus wie ein kleiner Junge, der eine Geheimbotschaft verfasst. Es fehlte nur noch, dass er die Zunge zwischen die Zähne schieben würde. Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, was er erwidert und sich dann wieder seinem Block zu wand. „Wenn du vielleicht mal wieder Musik hörst und dabei nicht arbeitest, dürfte ich dann mal zu dir rüber kommen?!“ Er reichte ihr den Block. Sie las die Nachricht und schaute ihn fragend an: „Du willst rüberkommen, wenn ich Musik höre?! Und was versprichst du dir davon?!“ Pause. „Entschuldige, aber… Du… kannst sie doch nicht hören?“ Saskia sah verwirrt aus, was Patrick zum Schmunzeln brachte. Er bat sie mit einer Geste um seinen Block und schrieb: „Nee, nicht hören. Aber fühlen. Aber das erklär ich dir beim nächsten Treffen, okay?!“ „Klar“, Saskia war immer noch verblüfft. Aber er schien nicht gewillt zu sein, ihr das ganze heute noch zu erklären. Sie sah es ihm an seiner resoluten Miene an. Sie brachte ihn zur Tür und die beiden verabschiedeten sich ohne Worte.

Mone Offline



Beiträge: 239

07.12.2006 11:16
#2 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

2 Allein, aber glücklich!

Die nächsten Tage waren ein einziger Stress für Patrick. Er hetzte von einem Termin zum nächsten. Zuerst musste er natürlich seine Wohnung einrichten. Er dachte immer wieder daran, wie er sie wohl zu einer Bude machen könnte, die nicht auf den ersten Blick wie eine Junggesellenwohnung aussah, aber so schön wie Saskias würde sie wohl nie werden…
Er sah sich in Einrichtungshäusern um, um den richtigen Stil zu finden. Bis jetzt hatte er ja schließlich bei seiner Mutter gewohnt und da hatte eben deren Stil vorgeherrscht. Aber hier, er wollte ja zeigen, dass er auch einen eigenen Charakter hatte. Und er fand auch einige Möbelstücke, zu denen er besonderen Bezug herstellen konnte. Zum Beispiel trieb er einen alten Ohrensessel auf. Fast dieselbe Machart wie der, in dem sein Großvater vor seinem Tod ganze Tage verbracht hatte, um Bücher zu lesen. Auf dessen Armlehne er gesessen hatte, während sein Großvater mit ihm alte Fotos anschaute. So einen hatte Patrick gefunden und war stolz darauf. Er stellte ihn in sein Arbeitszimmer, in den Raum, den er praktisch für seine Bücher reserviert hatte. Schließlich hatte er eine Menge davon. Wie andere Menschen Schallplatten und CDs sammelten, sammelte er eben Bücher. Er las für sein Leben gern und auch in allen ihm bekannten Sprachen. Aber in letzter Zeit hatte es ihm besonders die Poesie angetan. Er konnte es nicht erklären, aber er war ganz versessen auf Gedichte und besonders auf solche von unbedeutenden Leuten, die er bei Poetry Slams kennen lernte. Die er dann einfach fragte, ob sie ihm ein Exemplar ihres Gedichtes überlassen würden. Und da sagte meistens keiner nein.
Beim letzten Mal hatte er eine junge Frau kennen gelernt, die öfter Gedichte schrieb, sich aber bis dorthin noch nie getraut hatte, sie öffentlich zu machen. Ihr hatte er eines seiner Lieblingsgedichte abgeluchst:
Communication
Hands touching hands
Talking to each other

Eyes meeting eyes
Understanding each other

Thoughts addressing thoughts
Connecting two

Tell me
Why then do we still need words?

Gerade für ihn hatte es unendlich große Bedeutung, denn er wusste, wie schwer es manchmal sein konnte, mit anderen Leuten zu kommunizieren. Und wie oft hatte er sich schon einen Menschen gewünscht, mit dem er reden konnte, ohne zu reden. Bei dem er sich verstanden fühlte. Bis jetzt war ihm dieser Mensch aber leider noch nicht begegnet.
Aber der Ohrensessel war nicht das einzige schöne Stück in seiner neuen Wohnung. Da er sich auch sehr viel fürs Reisen interessierte, hatte er sich entschlossen, seiner Wohnung einen etwas exotischeren Touch zu verleihen und zwar durch, wie er es nannte, Themenzimmer.
Der Flur stellte dieses Hobby praktisch schon vor. Er hatte direkt gegenüber der Tür, so dass man sie gleich sah, eine Weltkarte aufgehängt, und all die Orte markiert, wo er bisher schon gewesen war. Was nicht unbedingt sehr viel war. Aber er war ja noch jung. Alle anderen Zimmer waren nur einer Stadt, einem Land oder einer Region zugeordnet. Seine Küche war mediterran gehalten: Hell, mit vielen Terrakotta- und Orangetönen, mit Postern von Gemüsesorten und Nudeln an der Wand. Sehr italienisch. Dagegen war sein Arbeitszimmer eher von skandinavischen Motiven geprägt, Bilder von Ferienhaussiedlungen in Schweden, Sonnenuntergange in Finnland, Luftaufnahmen von Fjorden und Schären. Dazu die Wände, die er in einem hellen Blau strich. Sein Schlafzimmer hatte er ganz Australien gewidmet. Von allen Wänden schaute ihm ein exotisches Tier entgegen. Daneben gab es noch Fotos von Aborigines mit Didgeridoos. Ganz besonders stolz war Patrick aber auf die Wand, die er mit Ayer’s Rock bemalt hatte, der ihm wirklich gut gelungen war. Aber gegenüber dem Wohnzimmer verblasste einfach alles. Es WAR einfach Afrika. Man fühlte sich wie in der Savanne ausgesetzt. Aber ohne dabei übertrieben zu wirken. Nein. Vollkommen unaufdringlich, aber trotzdem spektakulär.
Neben der ganzen Wohnungseinrichterei musste er sich natürlich auch noch um seinen Studienbeginn in Heidelberg kümmern. Schließlich hatte er nicht nur den Studienort sondern auch das Fach gewechselt, weil er festgestellt hatte, dass ihn BWL einfach nicht interessierte, sondern dass er viel lieber mit Wörtern jonglierte, als mit Zahlen. Deshalb hatte er sich jetzt für Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft entschieden. Er war gespannt, was dabei auf ihn zukommen würde. Aber alles war besser, als sich unnötigen Stoff ins Hirn zu hämmern, den er nach zwei Minuten eh wieder vergessen hatte.
So verging die erste Zeit in der neuen Stadt viel schneller, als er eigentlich gedacht hatte. Und mit viel mehr Stress, weil er seine Wohnung ja zudem auch noch taubstummen-gerecht machen musste. Die Klingel musste ja schließlich leuchten und keinen Ton von sich geben. Und sein Telefon musste die Nachrichten ja auch schreiben. Es war nur umständlich, in einer neuen Stadt jemanden zu finden, der diese Dinge vertrieb.
Aber im Endeffekt hatte Patrick endlich alles erledigt, war eingeschrieben, fertig eingerichtet und saß zum ersten Mal abends allein in seinen eigenen vier Wänden. Er hatte sich zur Feier des Tages eine Flasche Wein besorgt und dachte daran, wie schön es doch wäre, wenn er in genau diesem Moment nicht allein wäre, sondern diese wunderschöne Erfahrung mit jemandem zusammen machen könnte.

Mone Offline



Beiträge: 239

07.12.2006 11:17
#3 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

3 Eine besondere Prüfung
Patrick hatte Saskia völlig verblüfft und nachdenklich zurückgelassen, als er gegangen war. Ein Mensch, der noch nie Musik gehört hatte. Zumindest wahrscheinlich, sie hatte ihn ja schließlich nicht gefragt, ob er schon immer taubstumm gewesen war. Schon seltsam. Aber das konnte man ja auch nicht gleich fragen. Möglicherweise fühlte er sich ja dann diskriminiert und das wollte sie nicht.
Dennoch fühlte sie sich schlecht, nachdem er gegangen war. Sie war nicht fähig, sich dies zu erklären, aber als sie zurück ins Wohnzimmer ging und ihre Flöte da liegen sah, wurde ihr ganz seltsam zu mute. Sie wollte nicht mehr die Stereoanlage aufdrehen, aus Angst, er könnte wieder etwas merken. Und sie wollte auch nicht spielen, weil sie zu sehr mit ihren Gedanken woanders war. Und so ganz ohne sich zu konzentrieren, hatte es auch keinen Sinn, zu üben.
Sie setzte sich aufs Sofa und nahm das Buch zur Hand, das sie sich neu gekauft hatte. Sie las zum ersten Mal die Biographie des Autors und stutzte. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte sie seit neuestem etwa auch noch ein Händchen für Gehörlose?! Denn auch der Autor dieses Buches war taubstumm zur Welt gekommen, stand da zumindest. Die schienen sie ja richtig zu verfolgen heute. Sie legte das Buch weg, und schaltete den Fernseher an. Sie zappte unentschlossen durch die Kanäle, nur um zwei Minuten später die Fernbedienung wieder wegzulegen und aufzustehen. Sie ging in die Küche.
Merkwürdig, wie sehr sein Schicksal sie berührte. Und je mehr sie darüber nachdachte, was alles daran hing, wenn man nicht hören konnte. Sie beschloss, bald mal zu ihm rüber zu gehen und sich nach seinem Start in der neuen Umgebung zu erkundigen. Aber nicht heute, denn jetzt musste sie üben.
Sie holte ihrer Flöte und ihre Noten und spielte wie noch nie zuvor in ihrem Leben. So als hinge alles davon ab. Die „Morgendämmerung“ hatte noch nie so geklungen. Diesmal lag richtig Seele darin. Wenn sie das morgen auch schaffen könnte…
Am nächsten Morgen regnete es. Alles war grau in grau und Saskia hätte liebend gerne die Rollläden geschlossen und wäre im Bett geblieben. Aber schließlich rief die Arbeit und sie hatte zu hart dafür gearbeitet, als dass sie die Prüfung verpassen wollte.
Sie kam überpünktlich, wie immer, in der Musikhochschule an. Sie spielte sich warm in einem Raum, den man ihr zugewiesen hatte. Noch 15 Minute, dachte sie und seufzte. Sie dachte daran, wie gut ihr das Stück gestern gelungen war. Sie würde es heute noch einmal genauso spielen, das wusste sie, denn das Gefühl von gestern steckte ihr immer noch in den Knochen.
Die Tür ging quietschend auf und ihr Dozent streckte seinen Kopf herein. „Sind Sie soweit, Frau Kandinski?“ „Ja.“ „Dann kommen Sie bitte mit.“ Er öffnete die Tür ganz, ließ Saskia vorbei und führte sie über den Gang zu einem Hörsaal, der extra für Prüfungen vorgesehen war. „Bitte stellen Sie sich doch vors Pult.“ Ihr Dozent nahm ihr gegenüber bei den anderen Musikprofessoren Platz. „Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie uns heute Griegs „Morgendämmerung“ vorspielen werden. Bitteschön!“ Er nickte ihr zu und Saskia hob die Flöte an die Lippen. Sie holte Luft und fing an zu spielen. Die Musik flog geradezu durch den Raum, man konnte den Sonnenaufgang fast greifen. Die Atmosphäre war vollkommen.
Als Saskia das Stück beendet hatte, herrschte absolute Stille im Raum. Keiner sagte etwas. Sie befürchtete, sie hätte zu viele Fehler gemacht, weil sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen war. Sie räusperte sich. „Ähm, danke. Frau – äh – Kandinski.“, sagte Professor Grandini, ihr Dozent. „Das war hervorragend. Ich denke, ich kann für meine Kollegen sprechen, wenn ich ihnen zu dieser herausragenden Leistung gratuliere. Ich glaube, ich habe noch nie eine solche Interpretation dieses Stückes gehört. Sie können stolz auf sich sein.“ Nicken der anderen Dozenten. „Die Note wird ihnen Ende der Woche mitgeteilt, sie können jetzt gehen.
Saskia konnte es nicht fassen. Ein solches Lob, und noch dazu aus dem Munde von Grandini, dem Grandiosen, wie ihn seine Studenten nannten. Sie ging wie auf Wolken zu dem Raum zurück, wo sie ihre Tasche und ihre Jacke hatte liegen lassen, griff danach und verließ die Hochschule. Ein Gedanke huschte ihr durch den Kopf und statt direkt nach Hause zu gehen, beschloss sie, zunächst einmal einzukaufen.
4
Da stand sie nun. Sie hatte sich extra schick gemacht. Beziehungsweise versucht, gut auszusehen, ohne aufgebrezelt auszusehen. Saskia hatte stundenlang im Bad verbracht. Ihre dunklen Haare waren noch widerspenstiger gewesen als sonst. Sie hatte lange mit ihrer Frisur gekämpft und schließlich ein rotes Band durch ihre Haare geflochten, das nach hinten über ihren Rücken fiel. Außerdem hatte sie ein Winterkleid gefunden, das ihrer Figur genau den richtigen Schliff verlieh.
Bei dem Weinhändler um die Ecke hatte sie eine, wie der Verkäufer gesagt hatte, besonders gute Flasche Wein erstanden. Schließlich musste die Prüfung auch mit einem richtig guten Tropfen begossen werden.
Sie schluckte, räusperte sich, warf den Kopf in den Nacken (wäre doch gelacht, wenn sie das nicht bringen würde, sie hatte schon so viel mehr überstanden) und klingelte. Es machte kein Geräusch. Das war das erste, was ihr auffiel.
Hinter der Tür gab es seltsame Geräusche. Zuerst hörte man Schritte, dann ein lautes Scheppern, als wäre jemand über etwas Metallenes gestolpert. Und dann erklangen seltsam gutturale Laute. Der Spion bewegte sich und Saskia lächelte in Richtung des dunkelblauen Auges, das da auftauchte.
Patrick öffnete die Tür mit einem gleichzeitig fragenden und bewundernden Blick. Man konnte seinem Gesicht so gut ansehen, was er dachte beziehungsweise sagen wollte, dass Saskia lächelnd drauf los schwatzte: „Hi! Störe ich? Ich hatte heute ne wichtige Prüfung und ich hab bestanden und die Profs waren ganz begeistert und das möchte ich feiern und ich war allein zu Hause und ich hab mir gedacht, wenn du vielleicht Zeit hättest, dann könnten wir das freudige Ereignis zusammen feiern…“ Patrick lachte, was wieder diesen seltsamen gutturalen Laut erzeugte. Er trat einen Schritt zurück und bat Saskia mit einer angedeuteten Verneigung herein. „Machst du dich lustig über mich?!“ Saskia war immer noch misstrauisch, was sein Verhalten anging. Patrick schüttelte den Kopf und griff zu seinem Block: „Herzlichen Glückwunsch zur Prüfung. Du siehst toll aus heute Abend!“ Saskia las den Kommentar und schmunzelte: „Danke! Wenigstens einer, der es bemerkt.“

redRose ( Gast )
Beiträge:

14.12.2006 08:03
#4 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

sehr interessante geschichte. wie bist du darauf gekommen, über einen taubstummen zu schreiben? ich finde es sehr schön, vor allem, weil er ja trotz seiner behinderung sehr selbstständig ist und man bei den beiden auch mitfiebert, dass sie sich annähern. ich will würde so gerne wissen, wie das mit den beiden weitergeht! :-) find ich echt süß. :-)

Mone Offline



Beiträge: 239

14.12.2006 10:20
#5 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

die idee ist mir gekommen, weil ich im moment viel musik höre, weil das mit dem fernsehen im wohnheim so ne sache ist. und dann dachte ich daran, wie es wohl wäre, wenn ich das nicht tun könnte, wie jemand, der taub ist eben. außerdem fand ich es interessant, wie sich gerade zwei so unterschiedliche menschen einander annähern können. keine angst, die geschichte geht hundertpro weiter. wenn der klausurstress abgeebbt ist...

SugarAnnie Offline



Beiträge: 396

14.12.2006 13:18
#6 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

Da fält mir ein...kennst du dieses Lied "Musik nur wenn sie laut ist"? Hab vergessen von wem, aber da gehts um eine taube Frau, die die Musik so lange aufdreht, bis sie sie spüren kann...daran hat mich der Anfang deiner Geschichte ein bisschen erinnert....

Mone Offline



Beiträge: 239

15.12.2006 09:50
#7 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

nee, kenn ich nicht. aber ich kenn ein buch, in dem es eine episode gibt, da legt eine taubstumme frau ihre hand auf eine geige, während darauf ein lied gespielt wird, um die musik zu fühlen. das fand ich schon interessant!

SugarAnnie Offline



Beiträge: 396

17.12.2006 10:05
#8 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

Ja, das stimmt. Das ist eine absolut faszinierende Sache...und diese Geschichte hier ist auch faszinierend.
Schon mal jemandem aufgefallen, dass deutsche Geschichten auch auf deutsch kommentiert werden?

coop Offline



Beiträge: 372

17.12.2006 13:17
#9 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

mmh...komisch *g* vllt weils besser passt? ein seltsames phänomen, das noch geklärt werden muss ;-)
sehr schöne geschichte mone!

Mone Offline



Beiträge: 239

18.12.2006 13:01
#10 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

stimmt. ist mir eben zum ersten mal aufgefallen... aber schon witzig. muss vielleicht so sein. zwecks kohärenz und so...
übrigens: 5. kapitel...

5 Missverständnisse
Patrick ließ Saskia vorangehen. Er wollte sehen, wie sie auf seine Junggesellenbude reagieren würde. Aber er wartete vergebens auf ein Wort von ihr, denn Saskia ging ohne Zögern direkt in die Küche, zog mit einem Handgriff die Besteckschublade auf, die sie instinktiv am richtigen Ort vermutet hatte, fand einen Korkenzieher und drückte ihn Patrick zusammen mit der Weinflasche in die Hand. Alles ohne Worte. Das war das erste, was Patrick auffiel. Dann öffnete sie mehrere Schranktüren, bis sie Weingläser gefunden hatte (wie gut, dass ihn seine Mutter hatte überzeugen können, dass Weingläser in jeden Haushalt gehörten) und stellte sie auf die Anrichte. Patrick schmunzelte wegen ihres resoluten Auftretens, sie schien sich hier ja wirklich wie zu Hause zu fühlen. Ein Tippen von Saskia auf seine rechte Schulter riss ihn aus seinen Gedanken: „Nicht grinsen, Alter. Flasche aufmachen!“ Sie lächelte. Patrick erwiderte und schritt zur Tat. Gehorchen tut er ja schon mal, dachte sich Saskia mit einem Grinsen.
Patrick öffnete die Flasche, goss ihnen beiden wein ein und hob sein Glas. Sein Blick toastete ihr zu. Es waren dazu gar keine Worte nötig, was Saskia überrascht bemerkte. Das war ihr noch nie so bewusst geworden, wie wenig man doch eigentlich sagen musste, um sich zu verstehen und wie viel man doch mit zu vielen Worten kaputtmachte im Leben. Ihr Blick wurde nachdenklicher, was Patrick schnell bemerkte und ihn zu seinem Block greifen ließ. „Woran denkst du?“ „Meine Güte, sieht man mir so deutlich an, was in mir vorgeht?“ antwortete Saskia erschrocken. „Man vielleicht nicht, aber ich schon. Ich hab für anderer Leute Gefühle einen extra Sinn. Muss ja mein fehlendes Gehör irgendwie ersetzen.“ Er bat sie ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa setzten.
Saskia wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Konnte sie einfach drauflos fragen? Sie hatte Angst, ihn mit ihrer Neugier zu verletzen. Sie biss sich auf die Unterlippe und nagte daran herum, was Patrick wiederum sehr amüsant fand. „Du siehst aus wie mein Patenkind, wenn sie vor einem schier unlösbaren Problem steht.“ Saskia schaute ihm in die Augen und dachte, wie freundlich er doch schien und dass es vielleicht nichts ausmachen würde, wenn sie blöde Fragen stellte. Sie beschloss, das Risiko einzugehen. „Ich hätte da einige Fragen an dich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die einfach so stellen kann, ohne dass ich dir zu nahe trete.“ Patrick schrieb: „Hau raus, ich sag dir schon, wenn’s mir zu privat wird.“ „Aaaaalso. Wie fange ich an? Warst du schon als Kind taub? Kannst du auch Gebärdensprache? Warst du auf einer normalen Schule? Sind deine Freunde auch alle gehörlos? Kann man dagegen was unternehmen? Was…?“ Patrick fing an zu schreiben: „Stopp. So schnell kann ich nicht schreiben. Ich fange jetzt langsam mal an zu antworten, okay?!“ Saskia nickte. „Ja, ich war auch schon als Kind taub, ich bin so auf die Welt gekommen und habe dann natürlich relativ schnell auch Gebärdensprache gelernt. Muss ich ja, wenn ich mich irgendwie mitteilen will. Außerdem kann ich seit meinem vierten Lebensjahr auch Lippenlesen, was sehr hilfreich ist, wenn ich auf jemanden treffe, wie dich, der keine Gebärdensprache kann. Ich war teilweise auf einer Schule für Gehörlose, die aber kurz vor dem Abitur geschlossen werden musste, weil kein Geld mehr da war. Und dann hab ich meinen Abschluss auf einem ganz normalen Gymnasium gemacht, was auch erklärt, dass ich einige Freunde habe, die nicht gehörlos sind. Nein, gegen diesen Defekt kann man leider nichts machen. Ich hab oft drüber nachgedacht, aber eigentlich leb ich ganz gut so, wie es im Moment ist.“ Saskia sah ihn erstaunt an. „Das kannst du dir nicht vorstellen?! Ist ganz einfach. Meine Freunde und meine Familie, also die Leute, die ich wirklich brauche, haben es akzeptiert und können damit umgehen und wer nicht damit umgehen kann, den brauche ich nicht wirklich…“ Saskia war verblüfft. Dieser Mensch war ihr um Jahre voraus. Sie hatte das Gefühl mit einem alten Mann zu sprechen, der seine Weisheit an sie weitergab. Er hatte so etwas Abgeklärtes an sich, etwas das darauf hinzuweisen schien, dass er schon einiges Schlechtes erlebt haben musste in seinem Leben. Ihr Gesicht spiegelte all diese Gedanken zu deutlich wider, ohne dass sich Saskia dessen bewusst war. Patrick schrieb: „Nur keine Angst, das klingt nur so tragisch. Eigentlich konnte ich immer gut damit leben, dass nicht alle Menschen gleich gut mit mir umgehen können.“ „Aber es muss doch schrecklich sein, wenn man sich nicht mitteilen kann…“, wagte es Saskia einzuwerfen, was ihr einen überraschten Blick von Patrick einbrachte. „Ich kann mich also nicht mitteilen?! Dann kannst du mir bestimmt sagen, was ich gerade hier mache…“ Au weia, Fettnäpfchen. Saskia wurde rot. Das hatte sie so nicht gemeint. Wie konnte sie ihm das nur klarmachen? Sie hatte Angst, dass es den ganzen Abend zwischen ihnen stehen würde und ihr den Abend zur Hölle machen würde. Sie ergriff die Flucht… nach vorn. „Du weißt schon, wie ich das meine! Nicht reden können, wenn man reden will!“ „Ich kann reden, wenn ich will, nur besteht dann das Problem darin, dass mich keiner oder nur wenige verstehen?“ Wieder Überraschung pur vonseiten Saskias. Waren das etwa die seltsamen Laute gewesen, die sie vorhin gehört hatte, als sie vor der Tür stand? „Ich hatte mehrere Sprachkurse für Taubstumme. Denn wie bei so vielen, habe ich keinerlei Probleme mit der Stimme. Ich habe nur nicht sprechen gelernt, weil ich die Laute nicht höre, die andere mir vormachen. Deswegen ist es auch sehr gewöhnungsbedürftig, wenn mich Leute reden hören. Das weiß ich, man hat mich schon oft genug dumm von der Seite angestarrt.“ Patrick schrieb so schnell, dass seine Schrift sehr unleserlich geworden war. Saskia beugte sich tiefer über den Block, um die Schrift lesen zu können. So war das also! Sie hob den Kopf erneut und sah ihn an, so dass er Lippen lesen konnte. „Kannst du mir zeigen, wie du sprichst oder ist dir das unangenehm! Ich will wissen, wie deine Stimme klingt!“ Da kam die Musikerin in ihr durch. Sie war schon immer sehr empfänglich für Stimmen gewesen. Und jetzt wollte sie auch unbedingt hören, wie Patricks Stimme klang.
Patrick schaute sie fragend und nachdenklich an. Man sah ihm an, was in seinem Kopf vor sich ging. Er hatte Angst, Saskia zu vergraulen, aber er hatte auch Angst davor, sich vor dem Reden zu drücken. Und normalerweise hatten ihm die Lehrer in der Sprachschule versichert, dass er sehr gut sprechen würde. Schließlich hatte er ja dafür auch Jahre gelernt. „Nur wenn du mir versprichst, dass du nicht komisch guckst!“ Saskia nickte und hob drei Finger ihrer rechten Hand. „Ehrenwort!“ Patrick holte tief Luft und sagte ganz langsam und so, als würde es ihn enorm anstrengen: „Ich wünschte, ich könnte hören, wie deine Musik klingt!“ Saskia strahlte. Sie hatte jedes einzelne Wort verstanden. Gut, es klang nicht ganz wie normales Deutsch, aber man konnte ihn verstehen. Es klang einfach, als würde jemand extrem nuscheln. Und seine Stimme war alles andere als unangenehm, obwohl sie nicht trainiert war und deshalb irgendwie rau klang, so als würde jemand reden, nachdem er jahrhundertelang geschwiegen hätte. Saskia beschloss zu antworten, sie hatte bemerkt, dass sie ihn schon viel zu lange mit offenem Mund anstarrte, wie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt. „Ach, so gut spiele ich doch gar nicht.“ „Aber immerhin hast du eine Prüfung bestanden und da kannst du auch nicht schlecht sein.“ Patrick hatte seinen Block weggepackt, jetzt wo er wusste, dass sie ihn nicht auslachte und ihn zu allem Glück auch noch verstand, wagte er es, mehr zu reden.
Eine peinlich Stille entstand zwischen ihnen. Denn Saskia wusste beim besten Willen nicht, wie sie erreichen konnte, dass er ihre Musik hören konnte. Und Patrick hing seinen Gedanken nach. Hätte er nur nicht von der Musik angefangen. Aber es hatte ihn halt so beschäftigt. Es beschäftigte ihn schon so lange. Er wollte schon so lange wissen, wie sich Musik anhört und wie es ist, wenn man mit seinem Mädchen tanzen geht. Aber das hatte er sich bis jetzt immer noch nicht getraut. Aus Angst, aufzufallen und sich lächerlich zu machen.
Die Gesprächspause wurde länger. Immer unerträglicher. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, starrten vor sich und sprachen kein Wort. Schließlich griff Patrick zu seinem Block: „Bin gleich wieder da! Ich gehe uns mal was zu knabbern holen!“ Er stand auf und war schon in der Küche verschwunden, ohne dass Saskia auch nur ein Wort hatte erwidern können.

redRose ( Gast )
Beiträge:

18.12.2006 13:55
#11 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

das mit dem tanzen greifst du hoffentlich noch mal auf. ;-) weiter!!! :-)

Mone Offline



Beiträge: 239

18.12.2006 16:36
#12 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

alles fest geplant, nur keine angst...
:-)

coop Offline



Beiträge: 372

18.12.2006 19:45
#13 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

wird es auch veröffentlicht? *g*

SugarAnnie Offline



Beiträge: 396

18.12.2006 20:05
#14 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

Ja aber echt. Die Geschichte solltest du irgendwo einschicken.
Mehr her!

Mone Offline



Beiträge: 239

19.12.2006 13:53
#15 RE: Mal was längeres von mir... Antworten

ist ja noch unvollendet... ich wüsste auch nicht, an wen ich mich da wenden könnte. hab da keinerlei kontakte.

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